„Für das Leben“

Lieblingstochter meint, sie sei froh, dass ich wieder jemand habe, um den ich mich kümmern könne, seit sie ausgezogen ist. Ja, wahrscheinlich tut mir das gut. Ich kümmere mich gerne und schließlich – wenn nicht ich, wer dann? Ich hab mal Germanistik studiert, zumindest im Nebenfach, und arbeite in meinem Hauptjob nicht Vollzeit. Dass es mit diversen Nebenjobs oft mehr als Vollzeit ist, übersehe ich ja gerne mal.

Zwei Jungs hab ich zugeteilt bekommen, „meine“ Jungs, und denen versuche ich, Deutsch beizubringen. Sie kommen aus dem Irak und sind Gott sei Dank schon ziemlich groß. Ein paar Jahre älter als Lieblingstochter. Das meiste können sie daher auch selbst. Bloß mit dem Deutsch hapert es eben noch und kulturelle Unterschiede gibt es auch.

Ich lerne viel. Zum Beispiel, dass es nicht an einer Schussverletzung in der rechten Hand liegt, wenn man langsam Buchstaben abmalt, sondern daran, dass man sich gerade erst selbst unser Alphabet beigebracht hat. Ich lerne, dass a, e, und i sich offenbar fast genau gleich anhören für arabische Ohren und dass ich wohl eine erstaunlich gute arabische Aussprache habe. Aber vielleicht wollten sie nur höflich sein, als sie das gesagt haben, wie so oft – oder davon ablenken, dass sie wieder einmal nicht gelernt haben. Denn fleißige Engelein sind sie nicht, die zwei. Jede Woche bin ich zwei Stunden bei ihnen. Viel ist das nicht und doch merke ich, wie sie sich ganz langsam und allmählich ein bisschen bei uns einleben. Nicht nur ich zeige ihnen etwas, sondern auch sie mir. Ich weiß jetzt zum Beispiel wo es den besten Döner in Vorarlberg gibt. Dafür hat einer „meiner“ Jungs zum ersten Mal in seinem Leben einen Supermarkt betreten, um Lebensmittel einzukaufen. Ich hatte zum gemeinsamen Kochen geladen, denn ein wenig Kultur in Form von vegetarischem italienischen Essen möchte ich ja auch vermitteln. Jetzt kennt er Supermärkte also nicht mehr nur von außen und weiß, dass Petersilie nicht das Gleiche ist wie Stangensellerie, auch wenn beides grün ist. Und ich wiederum weiß, dass Gemüselasagne mit Petersilie auch eine ganz interessante Geschmacksvariante ist.

Über Geschmack kann man auch beim supersüßen löslichen Kaffee streiten, der für mich um Sprachunterricht in ihrer Asylunterkunft aber schon richtig dazu gehört. Da leben sie, zu zweit in einem Zimmer, zwanzig Leute in einem Haus, mit einer Toilette, einer Küche, zwei Duschen. Sie waren am Anfang in Traiskirchen, wissen also aus eigener Erfahrung, dass das im Vergleich zu anderen Unterkünften fast paradiesische Zustände sind, und doch zermürbt es auf Dauer. Streitereien sind vorprogrammiert, Afghanen gegen Iraker, Iraker gegen Afghanen. Und alle haben viel zu wenig zu tun. Man hört ihnen zu und wünscht ihnen so sehr, dass sie nach sieben Monaten in Österreich endlich erfahren, ob sie bleiben können. Dass der offizielle Deutschkurs für sie losgehen möge oder dass sie ein paar Tage im Rahmen der Nachbarschaftshilfe arbeiten dürfen. Und man freut sich mit ihnen über die kleinen Erfolge. Darüber, dass der eine sein erstes Spiel in American Football absolviert hat und danach zwei Tage kaum das Bett verlassen konnte, dass der andere im Kickboxverein aufgenommen wurde, nachdem die Fitnessstudios im Land keine Asylbewerber als Mitglieder akzeptieren. Einer führt jetzt Hunde aus dem Tierheim Gassi und kennt so wichtige Worte wie „Platz“ oder „Leine“. Sie waren sogar bei meinem Tanzfestival – und haben sich höflich durch den Abend gelangweilt.

Ich freue mich jede Woche darauf, sie zu treffen. Wir lachen viel und immer wieder überraschen sie mich. Auschwitz ist ihnen kein Begriff, Hitler sehr wohl und irgendwo schwingt da immer ein bisschen Respekt mit, wenn sie wieder und wieder davon anfangen. Sie wissen, dass ich aus Deutschland komme, und verstehen nur langsam, dass ich nicht der Meinung bin, dass Hitler etwas Gutes für „sein“ Volk wollte. Mich beschäftigen solche Aussagen, zumal es – selbst auf englisch – so schwierig ist, derart komplexe Zusammenhänge zu erklären. Ich merke, dass ihr Weltbild ein ganz anderes ist, sie halten Deutschland zum Beispiel flächenmäßig für viel größer als ihr eigenes Land und sind hoch erstaunt, wenn ich ihnen mit Hilfe von Landkarte und wikipedia das Gegenteil beweise. Ihr Weltbild lässt mich mein eigenes immer wieder überprüfen. Was weiß ich schon über den Irak vor dem 1. Golfkrieg? Was verstehe ich davon, was es bedeutet, im Krieg aufzuwachsen? Bisher weiß ich nur, dass ich die erste war, die einem von ihnen einen Geburtstagskuchen gebacken hat. In ihrer Kindheit gab es das nicht. Denn wie will man Geburtstag feiern, wenn die Nachbarin vielleicht gerade ihren Sohn im Krieg verloren hat, erklärt mir einer von ihnen. Und erst durch diese Antwort fange ich an, „Geburtstagsfeier und Islam“ zu googeln. Wie selbstverständlich ich immer wieder davon ausgehe, dass die Dinge, die mir vertraut sind, auch anderen Menschen aus anderen Kulturen vertraut sein müssen. Hat er sich jetzt über den Kuchen gefreut? Ich weiß es nicht. Er hat ihn nicht angeschnitten so lange ich da war. Aber eine Woche später war er aufgegessen.

Immer wieder wird mir im Umgang mit den Jungs bewusst, wie unglaublich leicht ich es habe, weil ich in Europa geboren wurde, weil ich mitteleuropäisch aussehe, weil ich keinen Krieg erleben musste, weil sich meine paar Narben durch mein ganz normales ungeschicktes Verhalten (sprich Stürze) erklären. Wie selbstverständlich Bilder von Persönlichkeiten wie Elvis Presley, Marilyn Monroe oder Albert Einstein bei mir im Gedächtnis verankert sind, und dass die Jungs diese Menschen auf den Fotos im Arbeitsbuch für den Deutschunterricht nicht erkennen können. Wir lernen alle drei dazu, jede Woche.

Manchmal bin ich aber auch genervt, wenn ich zum dritten Mal die vier Jahreszeiten erkläre, die Monatsnamen dazu nenne und darauf warte, dass sie sich das endlich mal merken. Wenn sie sich bei mir beschweren, dass sie so wenig Gelegenheit haben deutsch zu reden und dann mit mir nur englisch sprechen wollen. Ich erzähle ihnen dann von einem anderen jungen Asylbewerber, der erst 15 ist und bei einem Theaterprojekt mitmacht, bei dem ich die Schreibwerkstatt geleitet habe. Dieser Junge hat nach nur fünf Monaten im Land auf Deutsch einen Text geschrieben, der so anrührend ist, dass mir die Tränen kamen, als er ihn bei der Premiere auf der Bühne gesprochen hat. Lieblingstochter würde jetzt sagen, dass das mal wieder typisch ist, dass ich heule, wenn Eltern und Kinder sich trennen müssen. Ich weine auch immer wenn ich so etwas in Filmen sehe. In diesem Fall aber ist es kein Film, sondern seine ganz reale Geschichte: „Ich bin hierher gekommen für das Leben,“ meint der Junge und dem ist einfach gar nichts mehr zu zufügen.

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